Die vergessene Stadt
Dr. Pamela Ravasio ist Textilaficionado, Journalistin und Beraterin. Beruflich berät sie KMUs der Textil- und Modebranche in Sachen Nachhaltigkeit, und publiziert und forscht zum selben Thema. Sie ist in Zürich aufgewachsen und hat sie an der ETH dissertiert. Von 2005 bis 2009 lebte sie in Japan, seit 2009 in London. Ihre Website Shirahime gewann im Juni 2011 den Observer Ethical Award, den «Grünen Oscar» Grossbritanniens. Für Asienspiegel schreibt sie über Japans Mode, Textilhandwerk und die Rolle der Zivilgesellschaft.
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Es sind Eindrücke, die vor meinem inneren Auge Vergleiche mit historischen Fotos von Hiroshima in den ersten Jahren der Nachkriegszeit hochkommen lassen: Eine leere Fläche, in der sich quadratische Betonfundamente schön säuberlich aneinanderreihen; und dazwischen das, was einmal asphaltierte Quartierstrassen waren. Gelegentlich wird das Bild von etwas gespenstisch anmutenden Betonstrukturen aufgebrochen, die etwa ab dem 5. Stock so aussehen als könnten sie ebenso gut in Sendai, Tokyo, Aomori oder Osaka stehen.
Ich stehe in Mitten dessen, was der Tsunami und die Aufräumarbeiten von Shizukawa – einer der etwa 5 Buchten in Minamisanriku (Präfektur Miyagi) – übrig gelassen haben. In der Ferne thront etwas erhöht auf dem Kliff, und mit bestmöglicher Sicht über die ganze Bucht, das 7-stöckige Hotel Kanyo, das dank seiner Lage im Grossen und Ganzen glimpflich davon gekommen ist.
WENN DA NICHT DER TSUNAMI GEWESEN WÄRE
Die Häuser, Ortschaften und Städte im Nordosten Japans haben das Erdbeben vom 11. März 2011 an und für sich erstaunlich gut überstanden. In Sendai selbst ist höchstens noch der eine oder andere «Kratzer» im Randstein zu sehen. Die Gebäudevorschriften, die nach dem Kobe Erdbeben erlassen wurden, waren erstaunlich effizient. Es sind alles positive Aspekte, wenn da nicht der Tsunami gewesen wäre.
Auf den ersten Blick scheint dann auch soweit alles im Griff zu sein. Die Aufräumarbeiten sind beinahe beendet, die Trümmer säuberlich sortiert (Autos, Schiffe, Metallabrisse, Betonblöcke etc.). Denen, die ihr Hab und Gut verloren haben wurden temporäre Unterkünften zugewiesen. Noch sind einige der Strassen nicht optimal befahrbar, aber die Zucht von Jakobsmuscheln läuft wieder auf Hochtouren, und selbst einige der kleinen Boote wurden flott gemacht und dienen den Fischern um ihrer Arbeit nachzugehen. Nachts sind die Lichter von Fischfangflotten am Horizont sichtbar.
VERGESSENES MINAMISANRIKU
Das Bild verändert sich erst wenn man beginnt den Lack wegzukratzen, mit den Leuten ins Gespräche kommt, oder aber einfach zuhört was sie sich gegenseitig erzählen. Und das, was zum Vorschein kommt ist, im Fall von Minamisanriku, hässlich.
Eingeklemmt zwischen den Zentren von Ishinomaki im Süden und Kessenuma im Norden war das im Vergleich viel ländlichere Minamisanriku bereits vor dem Tsunami vergessen gegangen. Von ursprünglich noch nicht einmal 15’000 Einwohner leben heute offiziell 9000 in temporären Unterkünften. Inoffiziell dürften es weniger sein, da die Jungen und Junggebliebenen bereits aufgebrochen sind ihr Glück anderswo zu suchen. Die verbleibenden inoffiziell geschätzten 7’000 Einwohner sind auf 57 verschiedene Orte mit temporären Unterkünften verteilt worden. Jeder dieser Wohnkomplexe besteht aus zwischen 20 bis 250 Haushalten.
PER LOS ZUR NEUEN WOHNUNG
Die Zuweisung an die temporären Unterkünfte fand per Los statt. Ganze Gemeinschaften wurden in diesem Prozess zerrissen, mit dem Resultat, dass die meisten der Wohnkomplexe unbewohnt wirken, es aber nicht sind: die Bewohner verlassen ihre vier Wände kaum – was teilweise wohl auch durch das hohe Durchschnittlicher von über 55 Jahren bedingt ist – und neue soziale Kontakte kommen nur sehr, sehr mühselig zu Stande. Jeder der Wohnkomplexe kann inzwischen mindestens einen Selbstmordfall aufweisen – ein Faktum das von den regionalen und nationalen Medien geflissentlich ignoriert wird.
Um das Ganze noch schlimmer zu machen: die temporären Unterkünfte sind natürlich auf sicherem Gebiet aufgestellt worden, was bei genauerem Hinschauen eine beschönigende Beschreibung für ‹ab vom Schuss› ist. Zur nächsten Izakaya sind es im Auto 40 Minuten, zum Supermarkt deren 20 oder 30. Nur: die wenigsten haben ein Auto, oder selbst ein Fahrrad.
ABGESCHNITTEN VON DER WELT
Entsprechend ist die Versorgung mit dem Nötigsten ein Problem, und die tägliche Hauptbeschäftigung vieler Bewohner: Wasserleitungen, die jetzt im Winter gefrieren, weil sie nicht tief genug in den Boden eingelegt wurden; oder Wasser, das immer noch wenig vertrauenerweckenden schmeckt; Esswaren, die besorgt werden müssen, Arztbesuche, die organisiert werden müssen (nur einer der 57 Komplexe hat eine Arztstation), Wäsche, die gewaschen werden muss …
Trotz allem: die meisten Bewohner können mit den örtlichen Unannehmlichkeiten gut umgehen. Das was ihnen mehr zu schaffen macht, ist das Abgeschnitten sein von ihrem früheren sozialen Netzwerk, und die Schwierigkeiten mit denen sie sich konfrontiert sehen ein Neues aufzubauen. Die Regierung hat dieses Problem für den Fall der Senioren und Kinder erkannt. Niemand redet jedoch über die Generation der 20 bis 45-Jährigen. Diese müssen völlig auf sich selbst gestellt, versuchen das Beste aus einer miserablen Lage zu machen.
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