Sprechen Sie Chinesisch?
Stellen Sie sich vor, der Bürgermeister von Seoul, Shanghai oder Tokyo spräche Schweizerdeutsch. Das wäre für uns eine Sensation! Jetzt werden Sie vielleicht einwenden wollen, dass der in Pyongyang residierende Kim Jong-Il doch als Kind in der Nähe von Bern zur Schule ging. Doch nachgewiesen werden kann dies genauso wenig wie seine möglichen Bäärndüütschkenntnisse.
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Ganz anders verhält es sich bei Martin Abele, dem Gemeinderatspräsidenten der grössten Schweizer Stadt. Dieser steht seit Mai 2013 dem Zürcher Stadtparlament vor und ist somit der höchste Zürcher – zumindest für ein Jahr. Abele hat an der Uni Zürich Soziologie, Sinologie und Japanologie abgeschlossen und kann deshalb auch Chinesisch und Japanisch. Asienspiegel hat sich mit ihm – natürlich beim Asiaten – getroffen.
Abele kommt direkt von der Bürositzung im Hochhaus Werd, wo er jeweils am Montag zusammen mit seiner Kommission alle operativen Fragen des Gemeinderats sowie dessen öffentliche Sitzungen vom Mittwoch vorbereitet. Doch in unserem Gespräch geht es nicht um Politik.
Martin Abeles Zuneigung für Ostasien beginnt bereits in seiner Jugend, denn die ihm unbekannten Kulturen und die buddhistische Philosophie haben es ihm angetan. Die Liebe, die heute vor allem durch den Magen geht, beginnt mit den Sprachen, denn dafür hat Abele, der auch Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch gelernt hat, ein Flair.
«An Weihnachten, Hälfte weg!»
Gut erinnert er sich an seine erste Chinesischvorlesung an der Uni Zürich, bei der die Sprachlehrerin Frau Yan beim Betreten des grossen Vorlesungssaals zu lachen beginnt und sagt: «An Weihnachten, Hälfte weg!» Und so kam es dann auch. Wie vielen Sinologen und Japanologen wird ihm die Belastung jedoch bald zu gross, denn ein Unistudium beinhaltetet neben der Gegenwartssprache auch die klassischen Varianten von Chinesisch und Japanisch.
Aus diesem Grund nimmt Abele schliesslich das Studium der Soziologie im Hauptfach auf und verschiebt Sino- und Japanologie ins 1. und 2. Nebenfach. Durch die Berufswahl seien die Sprachkenntnisse seit seinem Abschluss verkümmert, meint der bescheidene Abele, der heute als Geschäftsleitungsmitglied bei der Markt- und Sozialforschungsfirma gfs-zürich (gfs steht für «Gesellschaft für praktische Sozialforschung») arbeitet.
Der Traum vom Tokyo Marathon
Abele, der seine Tage jeweils mit einer Tasse Sencha beginnt, würde sich wünschen, Chinesisch und Japanisch hätten ihm bei der Arbeit etwas genützt. Auch damit teilt er sein Schicksal mit zahlreichen Sino- und Japanologen, die ihre spezialisierten Kenntnisse im späteren Arbeitsleben kaum einsetzen können.
Ohne regelmässige Reisen und persönliche Bekanntschaften haben die Sprachen tatsächlich einen schweren Stand. Abele pflegt seine Beziehungen mit Taiwan und Japan vor allem via Facebook und ist selbst schon oft nach Asien gereist. 1989⁄90 verbrachte er ein Jahr in Taiwan, nach Japan reiste er bereits sechs Mal, wobei die letzte Reise schon über zehn Jahre zurückliegt.
Das hat auch mit dem zunehmenden politischen Engagement zu tun. Seit seiner Wahl in den Gemeinderat ist Abele vor allem in Europa unterwegs, gezwungenermassen während den Sommerferien und immer in Kombination mit einem bestimmten Ziel, zum Beispiel der Teilnahme an einem Marathon. Abeles grosser Traum ist die Teilnahme am Tokyo Marathon, doch spart er sich diesen für das Leben nach der Politik auf.
Eine Tischrede auf Chinesisch
Während der Zürcher mit Bieler Wurzeln seine asiatischen Sprachkenntnisse im Beruf nie einsetzen konnte, geschieht dies jedoch ab und an in der Politik, wann immer chinesische Delegationen die Zürcher Politik besuchen, so auch dieses Jahr am 25. September, wenn eine Gruppe von Honoratioren aus Zürichs Schwesterstadt Kunming vorbeikommt. Bei einer solchen Gelegenheit hält Abele jeweils eine kleine Tischrede auf Chinesisch.
Gibt es eigentlich andere Politiker in der Schweiz, die Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch sprechen? Martin Abele kennt nur einen, Jules Gut, grünliberaler Grossstadtrat aus Luzern. Dafür kommt ihm in den Sinn, dass Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch einst ein Jahr lang Chinesisch studiert habe.
Der Besuch aus Korea
In China, Taiwan oder Japan ist noch niemand auf Abele aufmerksam worden, doch kam letzthin ein koreanisches TV-Team vorbei, welches das politische Leben in der Schweiz mit demjenigen in Korea vergleichen wollte. Vor allem wollte es in der Reportage aufzeigen, dass Privilegien wie ein persönlicher Chauffeur für Politiker in der Schweiz – ganz im Gegensatz zu Korea – nicht notwendig seien.
Martin Abele (chinesisch: Ai Mading) sprach schon immer besser Chinesisch als Japanisch und hält sich gegenwärtig an der Volkshochschule in Form. Vor einigen Jahren hat er die zweite Stufe des Test of Chinese as a Foreign Language bestanden. Sein Ziel ist es, einmal die dritte Stufe zu bestehen. Dafür und für den Tokyo Marathon wünschen wir ihm schon jetzt viel Glück!
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