Ein Professor in Rage
Professor Tatsuhiko Kodama war wütend. «70’000 Menschen sind zur Evakuierung gezwungen und was macht eigentlich das Parlament?», schrie er ganz am Ende ins Mikrofon. Sein Publikum war kein wütender Mob, sondern die Kommission für Gesundheit des japanischen Unterhauses. Kodama ist Vorsteher des Radioisotopen-Zentrums der renommierten Universität Tokio, das sich mit Radioaktivität und all ihren Folgen beschäftigt. Über 27 Zentren hat er die Leitung inne.
Wenn Sie diesen Artikel gratis lesen, bezahlen andere dafür. Mit einem Abo sichern Sie die Zukunft dieses Japan-Blogs.
Der Professor und Arzt für interne Medizin weiss, wovon er spricht. Seit der Katastrophe vom 11. März ist Kodama mit Hochdruck an der Arbeit. Ein Team seines Zentrums war schon mehrere Male zu Dekontaminierungsarbeiten in Minamisoma, eine Stadt, die gerade noch ausserhalb der Evakuierungszone von Fukushima liegt. Als Experte wurde er deswegen vor die Kommission geladen.
16 Minuten sprach Kodama Ende Juli in einer fast schon erschlagenden Kompetenz über die Auswirkungen des AKW-Unfalls. Und niemand tat es bislang in dieser Leidenschaft. In Japan kennt man ihn als einen Forscher, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Seine Regierungskritik kommt an, seine direkte Wortwahl ebenfalls: «Als Kabinettssekretär Yukio Edano von keiner unmittelbaren Gesundheitsgefährdung sprach, schwante mir böses», waren seine einleitenden Worte.
Besorgniserregende Fakten
«Von der Regierung oder Tepco gibt es bis heute keinen Bericht darüber, wie viel radioaktives Materials aus Fukushima bislang ausgetreten ist», fuhr er sichtlich aufgeregt fort. Den Messresultaten des Radioisotopen-Zentrums zufolge, ist die Lage besorgniserregend. «Beim AKW-Unfall von Fukushima ist 29,6 Mal soviel Radioaktivität ausgetreten wie bei der Bombe von Hiroshima. Was das Uranium betrifft, sind es 20 Mal soviel», sagte Kodama. Als wären dies nicht schon genug ungemütlicher Nachrichten fügte er hinzu: «Die ausgetretene Radioaktivität einer Atombombe verringert sich nach einem Jahr auf einen Tausendstel ihres ursprünglichen Wertes. Bei einem Kernkraftwerk liegt diese Zahl lediglich bei einem Zehntel.»
Kodama setzte in der Folge zu einer ausführlichen Erklärung an und räumte mit gängigen Klischeevorstellungen auf. Durch die Kernschmelze sei eine hohe Menge an feinen radioaktiven Partikeln austreten. Dabei würden sich die Partikel nicht in konzentrischen Kreisen, sondern der Wetterlage entsprechend verteilen. Ob die Evakuierungszone nun auf einen Radius von 20 oder 30 Kilometer festgelegt werde, sei daher egal.
Doch die Regierung ziehe es lieber vor, die Kinder in Bussen aus der 20 bis 30-Kilometer-Zone in weiter entfernte Gebiete zu fahren, wo manchmal die Radioaktivität noch höher sei. «Tatsache ist, dass 70 Prozent der Schulen von Minamisoma, das gerade am Meer liegt, eine relativ tiefe Strahlung vorweisen.»
Die Kritik an den Behörden
Eine verlässliche Messung müsse daher Priorität haben, so Kodama. Diese wird aber von den Behörden scheinbar komplett vernachlässigt. «Als wir im Mai nach Minamisoma gingen, gab es nur einen Geigerzähler», kritisierte Kodama vor der Kommission. «Wir müssen dafür sorgen, dass eine verlässliche radioaktive Messung in den Krisengebieten vorgenommen wird.» Die Regierung müsse zudem die modernsten Messgeräte bei Boden-, Wasser- und Lebensmittelkontrollen verwenden.
«Weshalb gibt die japanische Regierung nicht mehr Geld dafür aus?» fragte Kodama. «Selbst nach 3 Monaten hat sie absolut nichts getan, mein ganzer Körper bebt vor Wut!» Die verheerenden Konsequenzen dieser Politik hätten inzwischen alle Japaner zu spüren bekommen. Das verstrahlte Reisstroh, die Rindern zum Futter vorgelegt wurden, sei nur ein Beispiel dafür (Asienspiegel berichtete).
Kodamas grösste Sorge gilt den Kindern. Gerade sie seien am anfälligsten auf Krebserkrankungen. Nur regelmässige Messungen, eine permanente Dekontaminierung der betroffenen Gebiete und eine individuelle medizinische Betreuung könnten das Risiko mindern. Es mache keinen Sinn, über kausale Zusammenhänge zwischen Strahlung und erhöhter Erkrankungen zu debattieren. Bis Krebs entsteht kann es in vielen Fällen 20 bis 30 Jahre dauern.
Die Sofortmassnahmen
Sofortmassnahmen will Kodama. Er fordert, dass die Behörden mit den modernsten verfügbaren Geräten die Strahlung im Boden, Essen und Wasser konsequent messen und permanente Dekontaminierungsarbeiten konsequent an die Hand nehmen. Zudem verlangt er neue Gesetze, die Kinder vor zu hoher Strahlung schützen, damit die Behörden nicht irgendwelche beliebige Grenzwerte setzen können (Asienspiegel berichtete) und den spezialisierten Zentren die Entsorgung und Handhabung von mehr radioaktivem Material erlaubt. Sein Team habe diesbezüglich bereits gegen das Gesetz verstossen müssen, um betroffene Anwohner in Minamisoma vor schlimmerem zu bewahren. Ausserdem soll in Fukushima ein Zentrum für Dekontaminierung errichtet und der Privatsektor mit all seinem technischen Knowhow besser eingebunden werden. «Das wärs», schloss Professor Kodama. Eine halbe Million Mal wurde seine Rede auf Youtube inzwischen angeschaut.
Ohne Abonnenten kein Asienspiegel
Februar 2024 – Wenn Sie diesen Artikel gratis lesen, bezahlen andere dafür. Mit einem Abo sichern Sie die Zukunft dieses Japan-Blogs, der über 5000 kostenlos zugängliche Artikel bietet.
VORTEILE JAHRES-ABO
Jahres-Abonnenten stehe ich für Fragen zur Verfügung. Klicken Sie hier, um mehr darüber zu erfahren.
- Zahlungsmittel: Master, Visa, PayPal, Apple Pay, Google Pay
- Für TWINT bitte via Asienspiegel Shop bezahlen
- Für Banküberweisung hier klicken