Leben in Zeiten des Aufruhrs
Erinnern Sie sich an The Wonder Years? In der Coming-of-Age-Fernsehserie blickt Kevin Arnold auf seine wohl behütete Kindheit in den turbulenten 1968er-Jahre der USA zurück. Es ist eine feinfühlige Geschichte über das Erwachsenwerden in Zeiten des Umbruchs – oder die Hippie-Zeit einmal anders erzählt.
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Haolun Shu ist mit Shanghai, Shimen Road ein ebenso faszinierendes Kunststück gelungen, indem er die bewegte Zeit rund um Tiananmen aus der Sicht des 16-jährigen Xiaoli wiederaufleben lässt.
Leben in Shanghais Backsteinhäusern
In Shanghais Shikumen, den pittoresken Backsteinhäuser der Stadt, lebt Xiaoli mit seinem Grossvater zusammen, während sich die Mutter in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihren Sohn in die USA aufgemacht hat. Im Shikumen teilen sich die Menschen unter einfachsten Bedingungen die Toilette, das Bad und die Küche. Jeder Familie bleibt ein kleines Zimmer.
Die enge Wohnsiedlung wird zum Zentrum von Haolun Shus Erzählung. Mittendrin ist Xiaoli, der das Leben in den engen Gassen der Shikumen mit seiner Kamera festhält. Er wird unwissentlich zum Dokumentarist einer bald vergangenen Welt. Die Fotografie ist sein Ausbruch aus der lähmenden Routine des langweiligen Schulunterrichts und des strengen Grossvaters, dessen Hoffnung auf ein besseres Leben durch die Kulturrevolution geraubt wurde.
Xiaolis Frauen
Nachbarin Lanmi, die den Eintritt ins College nicht geschafft hat und sich stattdessen lustlos in einer Fabrik anheuert, wird zu Xiaolis Vertrauensperson. In der Dichte des Shikumen träumen die Beiden auf ihre Art von einer besseren Zukunft und ein bisschen mehr Privatsphäre.
Xiaoli verfällt dem rohen Charme von Lanmi. Diese erwidert seine stillen Liebesgeständnisse jedoch nicht. Vielmehr will die exzentrische junge Frau nach Amerika und ist dafür auch bereit, Grenzen zu überschreiten.
Unschuldig schaut Xiaoli über Lanmis allmähliche Veränderung hinweg. Als jedoch die kecke, politisierte Schulkollegin Lili, die komplette Gegenthese von Lanmi, in sein Leben tritt und von den Studentenunruhen in Beijing erzählt, verändert sich für den 16-Jährigen alles.
Meisterhaft erzählt
Der 41-jährige Regisseur erzählt diesen prägenden Lebensabschnitt des Teenagers in Zeiten des Aufruhrs meisterhaft. Als Zuschauer käme man nie auf die Idee, dass es sich bei Shanghai, Shimen Road um seinen ersten Spielfilm handelt.
Mit einem Hauch von Nostalgie wird eine Lebenswelt von Shanghai vorgestellt, in der das Alte allmählich Platz macht für das Neue. Unaufdringlich skizziert Haolun Shu die aufgeladene Stimmung jener Jahre aus der Sicht eines unschuldigen Teenagers, der sich in den ständigen Widersprüchen seiner Umgebung verliert.
Ein Mikrokosmos
Im Zentrum des Films sind die liebevoll dargestellten Hauptcharaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Regisseur macht sie zum Mikrokosmos der chinesischen Gesellschaft jener historischen Tage. Mit Shanghai, Shimen Road erhält die Sammlung der Coming-of-Age-Filme mit politischem Anstrich einen neuen sehenswürdigen Beitrag. Es ist Tiananmen einmal ganz anders erzählt.
Shanghai, Shimen Road läuft in den Schweizer Kinos. Mehr dazu hier.
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