Der Aufstand der Jugend
Es gab eine Zeit in Japan, in der die Studenten für ihre politischen Ideale kämpften. Sie demonstrierten gegen den Sicherheitsvertrag mit den USA, gegen Premierminister Nobusuke Kishi, gegen den Vietnamkrieg oder gegen die Enteignung der Bauern, wie beim Bau des Flughafens Narita. Studentenunruhen und landesweite Protestaktionen gehörten wie selbstverständlich zu den 60ern.
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Dann kam das japanische Wirtschaftswunder so richtig in die Gänge und es folgte eine jahrzehntelange Phase der Entpolitisierung der Jugend. Mit Wohlstand und Fernsehsendungen über Belanglosigkeiten wurden Generationen zufriedengestellt. Die Politik wurde den Politikern überlassen und damit der ewigen Regierungspartei der Liberaldemokraten. Man könne politisch sowieso nichts ändern, ist bis heute ein gängiger Spruch unter den Japanern.
Die erste Protestbewegung
Dann kamen am 11. März 2011 das Erdbeben, der Tsunami und die AKW-Katastrophe. Es formten sich neue, lokale Protestbewegungen, die sich mehrheitlich aus der Generation der 60er-Jahre und jungen Studenten zusammensetzte. Sie demonstrierten gegen die Atompolitik friedlich, bunt, aber entschlossen (Asienspiegel berichtete).
Auf dem Höhepunkt demonstrierten über 100’000 Menschen im Juli 2012 im Yoyogi-Park in Tokio gegen die Atomkraft (Asienspiegel berichtete). Japan schaltete allmählich alle Reaktoren ab, um sie auf ihre Sicherheit zu prüfen. Doch die Bewegung verpasste es, sich politisch zu organisieren und zu etablieren – und so verpuffte ihre Wirkung.
Die polarisierende Politik
Mit Amtsantritt von Premierminister Shinzo Abe Ende 2012 kam die Rückkehr zur Atompolitik (Asienspiegel berichtete). Auch wenn zwischenzeitlich nur 2 von 43 Reaktoren wieder am Netz sind, ist die Richtung klar. In den nächsten Wochen könnten vier weitere Reaktoren hochgefahren werden. Mit rechtlichen Klagen und lokalen Demonstrationen kämpft man weiterhin dagegen an, doch die Atomlobby ist wieder am längeren Hebel.
Shinzo Abe hat sich derweil längst neuen politischen Minenfeldern gewidmet und damit die Bevölkerung gespalten wie selten ein Regierungschef zuvor. Während seine Befürworter in ihm den aktiven Reformer sehen, der Japan wieder aussenpolitische Stärke verleiht, sehen seine Gegner in ihm den Anti-Demokraten, der das pazifistische Erbe der Nachkriegszeit in Gefahr bringt.
2013 brachte Abe ein neues «Gesetz zum Schutz von Staatsgeheimnissen» durch, das die Medien und die Opposition als gefährlichen Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit betrachten (Asienspiegel berichtete). Schliesslich folgte die umstrittene Neuinterpretation der Friedensverfassung und die Verabschiedung der Sicherheitsgesetze, die Japan die Entsendung von Truppen nach Übersee zur Unterstützung von Alliierten in Kampfeinsätzen erlauben. Die Kritiker warfen ihm Verfassungsbruch vor (Asienspiegel berichtete).
Die Geburtsstunde von SEALDs
Abes umstrittenes Vorgehen wurde zur Geburtsstunde einer neuen Studentenbewegung. SEALDs nennt sie sich, was für Students Emergency Action for Liberal Democracy steht, die sich für den Schutz der Friedensverfassung, der Freiheit und Demokratie einsetzt, wie sie auf ihrer Website erläutert.
Medial für Aufmerksamkeit sorgte SEALDs, als sie im August 2015 eine Demonstration vor dem Parlament zusammen mit anderen Bürgerrechtsgruppen organisieren half. 120’000 Menschen protestierten gegen Abes Sicherheitsgesetze. Es war eine der grössten Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte (Asienspiegel berichtete).
Zum Aushängeschild von SEALDs ist der 23-jährige Aki Okuda geworden, Student an der Meiji-Gakuin-Universität. Zusammen mit anderen 10 Studienkollegen gründete er die Gruppierung, die sich aus dem Protest gegen das umstrittene «Gesetz zum Schutz von Staatsgeheimnissen» heraus entwickelte. Die Debatte um die Sicherheitsgesetze katapultierte SEALDs schliesslich in die nationalen Medien. Die Opposition lud Okuda sogar ein, vor dem Komitee des Oberhauses zu sprechen. Verhindern konnten die Bewegung die Verabschiedung der Gesetze jedoch nicht.
Aus den Fehlern lernen
SEALDS hat aus den Fehlern der Anti-AKW-Bewegung gelernt. Sie ist jung, organisiert und hat es verstanden, viele bislang apolitische Studenten wirksam für sich zu gewinnen. Mit professionell produzierten Videos (siehe Film unten), die intelligente Verwendung der sozialen Medien, musikalischen Veranstaltungen an belebten Orten wie vor dem Bahnhof Shibuya und eingängigen Botschaften haben sie die Politik für viele Jugendliche interessant gemacht.
Das hat sogar so gut funktioniert, dass SEALDs zu einem der japanischen Trendwörter des Jahres 2015 gewählt wurde (Asienspiegel berichtete). Okuda ist schon längst zum Feindbild der Rechten geworden. Erst neulich wurde ein 19-jähriger Verdächtiger wegen Morddrohung gegen Okuda und seine Familie verhaftet, wie die Tokyo Shimbun berichtet.
SEALDs schwört – im Gegensatz zu der Bewegung der 60er – jeglicher Gewalt ab und mischt – im Gegensatz zur Anti-AKW-Bewegung – auch auf politischer Ebene aktiv mit; oder versucht es zumindest. Zusammen mit anderen Bürgerrechtsgruppen, Akademikern und verschiedenen Oppositionsparteien wollen sie für die kommenden Oberauswahlen im Sommer eine Allianz bilden, um gezielt Kandidaten unterstützen, die sich für die Abschaffung der eingeführten Sicherheitsgesetze und den Schutz der jetzigen Verfassung einsetzen, wie die Nachrichtenagentur Jiji berichtet. Ziel ist es, dass sich die Gruppierungen auf einen einzigen Kandidaten pro Wahlkreis einigen, um die Wahlchancen gegen die Vertreter der Regierungspartei LDP zu erhöhen.
Und so werden die Oberauswahlen zum grossen Test. Dann wird sich zeigen, ob SEALDs auch wirklich das Zeugs dazu hat, mehr als nur eine politische Trendbewegung zu sein.
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