100 Jahre Büroarbeit in Japan
«100 Years of Work» heisst ein neuer Werbefilm (siehe oben) der japanischen Firma SmartHR, die sich auf die Digitalisierung des Personalwesens spezialisiert hat. Es ist ein zweiminütiger liebevoll gestalteter Beitrag, die die Kultur der modernen Büroarbeit der vergangenen 100 Jahre mit nostalgischen Bildern Revue passieren lässt. Um dem Werk einen einzigartigen Retro-Stil zu verleihen, wurde der japanische Künstler Motocross Saitō beauftragt. Er hat sich einen Namen als Pixel-Künstler gemacht. Seine Welt sind verzückenden Alltagsbilder im digitalen Stil der 1980er. «100 Years of Work» ist ein ästhetisch und erzählerisch gelungener Rückblick auf die moderne japanische Arbeitswelt, die sich mit jedem Jahrzehnt neu erfunden hat.
Szenen aus dem Film
1920er
Der Film beginnt in den 1920ern. Nach Jahrzehnten der intensiven Industrialisierung und Modernisierung des Landes nimmt die moderne Büroarbeit in dieser Dekade einen immer wichtigeren Platz ein. Der Begriff Salaryman entsteht und ist bis heute ein prägender Begriff für den Büroarbeiter geblieben. Für die Frauen wurde damals der Ausdruck Shukugyō fujin, «die erwerbstätige Dame», verwendet. In der Nachkriegszeit sollte sich schliesslich Office Lady (OL) durchsetzen. Auffällig in dieser Szene ist die Kleidung. Der Mann ist westlich modern, die Frau traditionell japanisch gekleidet.
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1940er
Die 1940er werden zum Jahrzehnt des Umbruchs. In der ersten Hälfte dominiert die militärisch geprägte Zivilistenkriegsuniform (jp. Kokuminfuku). Nach dem Krieg wird das Militär durch die Wirtschaft ersetzt. Der Geschäftsanzug prägt fortan das urbane Alltagsbild.
1950er
Der Salarymen mit Hornbille ist nun tagtäglich mit dem Wiederaufbau des Landes und der Wirtschaft beschäftigt. Mit Ventilatoren kühlen sich die Büroarbeiter an heissen Sommertagen ab. Papierberge und ein Telefon mit Wählscheibe werden zu den wichtigsten Begleitern im Alltag eines Angestellten. Im Hintergrund sieht man Schutzhelme für die Besichtigung von Baustellen. Es ist ein Hinweis auf die intensiven Bautätigkeiten in jener Dekade, in der auch die lebenslange Beschäftigung und das Senioritätsprinzip zu tragenden Säulen der Wirschaft werden.
1960er
Japan tritt in die Phase des wirtschaftlichen Hochwachstums ein. Zum Symbol dafür wird die Eröffnung der Shinkansen-Strecke, die die Fahrzeit zwischen den Metropolen Tokio und Osaka von 6 auf 4 Stunden reduziert. Es ist Juli 1969. Der Salaryman liest in der Zeitung von der Mondlandung der Amerikaner. Ein weiterer Passagier zieht genüsslich an seiner Zigarette. Japan erlebt nach vielen entbehrungsreichen Jahren eine Zeit des ersten Wohlstands.
1970er
Das japanische Wirtschaftswunder hat nicht nur positive Seiten. Tokio ist vollends zu einer Mega-City geworden. Lebten 1945 erst 3,5 Millionen Menschen in der japanischen Hauptstadt, sind es in den 1970ern 11 Millionen. Die «Pendlerhölle» (jp. tsūkin jigoku) wird zur neuen Normalität. Büroarbeiter werden im Bahnhof Shinjuku regelrecht in den Zug gedrückt. Eine Auslastungsrate von 300 Prozent ist nichts Ungewöhnliches.
1980er
Es ist die Zeit der Wirtschaftsblase und des Exzesses. Es wird viel verdient, viel ausgegeben und gefeiert. Überstunden erreichen eine neue Dimension. Begriffe wie Kigyō Senshi (dt. «Unternehmenssoldat») und Mōretsu Shain (dt. «der mörderisch arbeitende Firmenangestellte») finden Eingang in die japanische Sprache. In dieser Szene sieht man einen rauchenden Salaryman bei der Arbeit und zwei schlafende Kollegen im Büro. Es ist 2:30 Uhr in der Nacht. Die digitale Schreibmaschine Wāpuro ist nun das Standardarbeitsgerät. Zugleich erlebt die nächtliche Ausgehkultur einen Höhepunkt in jenen Jahren. Nominikeshon, das gemeinsame Trinken zur Förderung der Arbeitsbeziehungen, wird zum geflügelten Wort.
1990er
1992 ist der Wirtschaftstraum zu Ende. Die Blase platzt, das Land stürzt in eine tiefe Krise. Vom verlorenen Jahrzehnt wird später die Rede sein. Zugleich macht die Digitalisierung Fortschritte. Der Desktop-Computer und das kabellose Festnetz-Telefon werden zu den neuen Arbeitsgeräten. Viele Gewohnheiten bleiben. Vom Hanko-Stempel, Fax-Gerät und Papier werden sich die Japaner noch lange nicht lösen. Die Revision des Gleichstellungsgesetzes 1997 soll zudem helfen, gleiche Rechte für die arbeitende Frau zu schaffen. Es sollte ein langer, steiniger Weg bleiben.
2010er
Das Smartphone und der Laptop sind nun die dominierenden Arbeitsgeräte. Das Wifi ermöglicht, eine flexiblere Arbeitskultur. Cafés werden zum neuen Büro. Zugleich befindet sich Japans Büroarbeiter-Kultur im Umbruch. Die Behörden versuchen, das Problem der nicht bezogenen bezahlten Urlaubstage und der tödlichen Überstunden mit neuen Ansätzen zu lösen.
Heute
«100 Years of Work» schliesst mit einem Blick auf die Gegenwart ab. Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel, Trennwände und das Homeoffice werden im Angesicht der Corona-Pandemie zum Nyū Nōmaru («new normal»). Im Film wird zuletzt die Gleichberechtigung thematisiert, mit einem Ehemann, der sich um das Kind kümmert und einer Ehefrau, die in die Arbeit vertieft ist.
Es bleibt eine Welt im Umbruch. Die Digitalisierung, die Pandemie, der Bevölkerungsrückgang und die Überalterung der Gesellschaft werden Japans Arbeitswelt auch in den kommenden Jahren nachhaltig verändern.
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