Die Ära Shinzo Abe

Am 8. Juli 2022 erlebte die Demokratie einen schwarzen Tag. Japans ehemaliger Premierminister Shinzo Abe wurde bei einer Wahlrede anlässlich der morgen anstehenden Oberhauswahlen auf offener Strasse erschossen. Er erlag kurz darauf seinen Verletzungen (Asienspiegel berichtete). Mit dem Tod von Shinzo Abe verliert Japan einen Politiker, der ein ganzes Jahrzehnt prägte.
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Von 2012 bis 2020 – 2822 aufeinanderfolgender Tage – war Shinzo Abe Regierungschef. Nimmt man noch die erste kurze misslungene Amtszeit von 2006 bis 2007 hinzu, dann war er 3188 Tage Premierminister. Das hatte vor ihm noch kein anderer Politiker in Japan geschafft. Es waren, wie schon beim ersten Mal, gesundheitliche Gründe, die ihn im August 2020 zum Rücktritt zwangen. Er litt seit Jahren an einer chronischen Darmentzündung, die er dank Medikamenten und einem ausgeglicheneren Lebensstil in den Griff bekam. Die Corona-Krise und der damit verbundene Stress liess die Krankheit wieder aufflammen. Auch seine Politik überzeugte die Bevölkerung zuletzt immer weniger. Der Rücktritt war unausweichlich.
Eine politische Ära
Shinzo Abe brachte in den 2010er-Jahren Stabilität in die launische japanische Politik zurück, gab dem Land ein Gesicht, sein Name war international ein Begriff. Mit ihm gewann seine Regierungspartei drei Unterhauswahlen und drei Oberhauswahlen. Zuvor kamen und gingen die Regierungschefs im Jahresrhythmus, das Land war lange ohne Kurs. Mit einer Politik des lockeren Geldes, die als Abenomics bekannt wurde, zog er den Inselstaat aus der wirtschaftlichen Lethargie. Die Wirtschaftsleistung wuchs wieder. Unter seiner Ägide wurde der Einreisetourismus zu einer boomenden Branche. Zudem öffnete er in kleinen Schritten den Arbeitsmarkt für ausländische Arbeiter. In Japan war wieder eine Zuversicht zu spüren, die lange verloren schien.
Es gelang ihm jedoch nicht, die strukturellen Probleme des Landes zu lösen. Die rasant überalternde Gesellschaft, die extrem hohe Verschuldung, der ausgetrocknete Arbeitsmarkt, die tiefe Geburtenrate und die rasante Landflucht bleiben ungelöst. Die Gleichstellung der Frau in der Wirtschaft wurde zu einem unerfüllten Versprechen. Selbst in der Ära Abe verharrten die Löhne auf demselben Niveau. Es war schliesslich die Corona-Krise und ihre Folgen, die Abenomics endgültig ins Schlittern brachten. Die lockere Geldpolitik, an der die Zentralbank bis heute festhält, wird aufgrund der Inflation zunehmend infrage gestellt.
Umstrittene Entscheidungen
Innenpolitisch sorgte der nationalkonservative Politiker für einen umstrittenen Kurswechsel. Das Gesetz zum Schutz von Staatsgeheimnissen war ein Schlag für die Pressefreiheit (Asienspiegel berichtete). Mit dem sogenannten Sicherheitsgesetz wurde der Verfassungsartikel 9, in dem Japan auf Kriegsführung zur Lösung internationaler Konflikte verzichtet, grosszügig uminterpretiert, sodass Japan heute das Recht auf kollektive Selbstverteidigung anwenden darf und Alliierte damit militärisch unterstützen kann (Asienspiegel berichtete). Massendemonstrationen waren die Folge (Asienspiegel berichtete). Sein Wunschprojekt, die unveränderte Nachkriegsverfassung und somit den Artikel 9 zu ändern, gelang ihm jedoch nicht. Ausserdem kämpfte er zunehmend mit dem Vorwurf, Günstlingswirtschaft zu betreiben (Asienspiegel berichtete).
Geübt zeigte sich Abe in der Allianzpflege mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump. Die USA ist mehr denn je der lebenswichtige militärische Partner für den Inselstaat. Derweil blieben die politischen Konflikte um Grenzinseln und die historische Aufarbeitung mit Südkorea und China verhärtet.
Kein krönender Abschluss
In der Corona-Krisenpolitik zeigte er sich unentschlossen und zögerlich. Seine konfuse Masken-Geschenkaktion an die gesamte Bevölkerung wurde zum Gespött (Asienspiegel berichtete). Seine Zustimmungswerte brachen ein. Dabei hätte das Jahr 2020 der krönende Abschluss seines Jahrzehnts werden sollen – mit den Olympischen Spielen als feierlichen Höhepunkt. Es kam bekanntlich alles anders.
2020 war aber nicht das Ende von Abes politischer Karriere, ganz im Gegenteil. Als Abgeordneter des Unterhauses und als Vorsitzender einer eigenen mächtigen Faktion innerhalb der Regierungspartei LDP blieb der Ex-Premier bis zuletzt ein einflussreicher Politiker, der auch regelmässig im Fernsehen seine Meinung kundtat (Asienspiegel berichtete). Zuletzt war er der Königsmacher, als es bei der LDP darum ging, einen neuen Premier zu finden. Sein Einfluss und seine Faktion sorgten dafür, dass sich Fumio Kishida durchsetzte.
Sohn einer Politikerfamilie
Shinzo Abe stammte aus einer Politikerfamilie. Premier Nobusuke Kishi (Amtszeit: 1957 – 1960) war sein Grossvater, Premier Eisaku Sato (1964 – 1972) sein Grossonkel. Sein Vater Shintaro Abe war von 1982 bis 1986 Aussenminister. Sein jüngerer Bruder Nobuo Kishi ist der heutige Verteidigungsminister. Abe war mit Akie Abe (Asienspiegel berichtete) verheiratet. Das Ehepaar hatte keine Kinder.
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