Die Seidenfabrik von Tomioka
REISENOTIZEN – Ich bin zurzeit unterwegs in Japan. In dieser Serie teile ich meine täglichen Reiseerlebnisse und Beobachtungen.
Heute kennt man Japan als weltweit bedeutender Exporteur von Autos, Kameras und allerlei elektronischer Produkte. Diese Industrien haben dem Inselstaat in der Nachkriegszeit einen ungekannten Wirtschaftsboom beschert. Weniger bekannt ist, dass Japan einst von einem ganz anderen Produkt abhing. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Land einer der wichtigsten Exporteure von Rohseide. Die Grundlage dafür wurde in der Stadt Tomioka in der Präfektur Gunma gelegt.
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Dort entstand 1872, finanziert durch den japanischen Staat, eine moderne Modellfabrik für eine Seidenspinnerei, die das Land in einen bedeutenden Hersteller hochqualitativer Rohseide verwandeln sollte. Für die Umsetzung dieses ambitionierten Projekts wurde Paul Brunat engagiert. In der Präfektur Gunma fand der französische Ingenieur die idealen Bedingungen für den Bau dieser Anlage vor. Hierzu zählte die Tatsache, dass in der unmittelbaren Region genügend Seidenraupenzucht-Dörfer existierten.
Die Geschichte der Seidenfabrik
Auf einem riesigen Gelände in der Stadt Tomioka entstanden zwei langgezogene Lagerhäuser für die Seidenkokons und eine Halle für die Wickelmaschinen. Hinzu kamen ein Stahlwassertank für die Wasserversorgung, eine Dampfmaschine für die Energie und ein Schornstein für die Abgase. Zusätzlich wurden Bürogebäude, die Villa für Paul Brunat, eine Krankenstation sowie Unterkünfte für die Arbeiterinnen und die Familien der leitenden Angestellten erbaut. Dank dieser Modellanlage konnte das Wissen um die moderne Seidenproduktion systematisch erlernt und weitergegeben werden. Auf diese Weise verwandelte sich Japan in nur wenigen Jahrzehnten zu einer Exportmacht für Rohseide.
Die Seidenfabrik von Tomioka wechselte mehrmals den Besitzer. 1893 übernahm der Konzern Mitsui im Rahmen der Privatisierung die Verantwortung der Produktion. 1902 ging sie in die Hände der Hara Company über. Schliesslich wurde Katakura Industries ab 1939 neuer Besitzer. Diese Firma führte in den 1960er-Jahren die weitgehende Automatisierung der Produktion mit Maschinen von Nissan ein. Letztlich leitete die Konkurrenz aus China und die Erfindung synthetischer Stoffe den Niedergang dieser einst blühenden Branche ein. 1987 gab Katakura Industries den Betrieb in der Tomioka-Seidenfabrik auf.
Die Weitsichtigkeit des Besitzers
Das Unternehmen zeigte sich in der Folge für japanische Verhältnisse ungewöhnlich weitsichtig. Denn selbst nach der Schliessung sorgte sie für den Unterhalt dieser historischen Stätte, die 2005 an die Stadt Tomioka übergeben wurde. Somit konnte ein wichtiges architektonisches Erbe aus der Meiji-Zeit (1868 bis 1912) praktisch vollständig erhalten werden. 2014 wurde die Seidenfabrik zusammen mit drei weiteren Stätten des Seidenproduktionsprozesses zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Der Besuch der Fabrik erlaubt einen lebendigen Einblick in die Anfänge der Industrialisierung des Landes. Der Gang durch diese historischen Bauwerke macht zugleich die Meiji-Zeit, als sich der Inselstaat in wenigen Jahrzehnten modernisierte, erlebbar.
Der Standort der einstigen Tomioka-Seidenfabrik
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