Die sexuelle Grauzone

Die 43-jährige Megumi Igarashi macht mit Intimitäten Kunst. Im Sommer 2014 sammelte sie in einer Crowdfunding-Kampagne erfolgreich Geld, um mit einem 3D-Drucker ein Kajak herzustellen, das die Form ihrer Vagina hatte. Jeder, der mehr als 3000 Yen (23 Euro) spendete, bekam die entsprechenden Daten, um sich selbst ein solches Boot zu drucken. Daneben kreierte sie ganz verschiedene funktionale wie auch dekorative Objekte des Alltags, die die Form ihrer Vagina hatten. Einige davon stellte sie auch in einem Sexshop in Tokio aus.
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Für Igarashi ist es nichts anderes als ein künstlerischer Ausdruck, eine Weiterentwicklung der Pop Art. Doch wer in Japan öffentlich mit seinem Geschlecht spielt, dem droht eine saftige Geldstrafe oder sogar Gefängnis. Die Künstlerin wurde gleich mehrmals verhaftet und nun der Prozess gemacht. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Geldstrafe von 800’000 Yen (6132 Euro) wegen Verbreitung von Obszönitäten, wie die Asahi Shimbun berichtet.
Die Verteidigung hingegen betont derweil, dass es sich bei Igarashis Kreationen, nicht um Obszönitäten, sondern um Kunstwerke handelt. Ausserdem werde mit der Klage ihr Recht auf Meinungsfreiheit beschnitten. Sie fordert daher einen Freispruch. Das Tokioter Bezirksgericht wird voraussichtlich am 9. Mai sein Urteil fällen.

Ein widersprüchlicher Umgang
Der Prozess steht stellvertretend für den widersprüchlichen Umgang Japans mit sexuellen Darstellungen (Asienspiegel berichtete). So untersagt bis heute der 1907 formulierte Artikel 175 des japanischen Strafgesetzbuches den Vertrieb von «Obszönitäten» (Asienspiegel berichtete).
Genitalien und Schamhaare werden als Folge dessen in japanischen Erotikfilmen konsequent mit einem Mosaikmuster verpixelt. Die Mangabranche zeigt sich besonders kreativ, wenn es darum geht, sexuelle Inhalte «gesetzeskonform» wiederzugeben. Die Grauzone ist entsprechend gross, die Anwendung des Gesetzes ist oft widersprüchlich und zufällig. Doch stets droht der Eingriff durch den Staat, wie Megumi Igarashi nun persönlich erfahren musste.
Das Penis-Festival
Gleichzeitig hält man in verschiedenen ländlichen Regionen Japans jedes Jahr in alter Shinto-Tradition Feste ab, in denen man mit grossen Penis- und Vagina-Skulpturen die Genitalien ehrt. Damit verbunden ist der Wunsch nach einer guten Ernte und vielen Kindern. Ein solches Fest findet beispielsweise jedes Jahr im März beim Tagata-Schrein in der Stadt Komaki ausserhalb Nagoyas statt.
Zuerst wird die Vagina und ein paar Tage später der Penis zelebriert. Die Einwohner der Stadt ziehen sich festlich an und feiern den Tag mit Sake und Bier. Eine Gruppe junger Männer trägt dabei einen riesigen Penis aus Zypressenholz durch die Stadt und macht alle paar Meter einen kurzen Halt, um den Holzphallus um die eigene Achse zu drehen. Eineinhalb Stunden dauert der Umzug. Die Trageteams wechseln sich ab, so schwer ist der Penis (Asienspiegel berichtete).
Die Organisatoren solcher Feste müssen sich im Gegensatz zu modernen Künstlerinnen wie Megumi Igarashi keine Sorge um mögliche Verstösse gegen die Verbreitung von Obszönitäten machen. Es ist ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich man dieses Gesetz interpretieren kann.
Die Kopfkissen-Bilder
Gleichzeitig zeigen diese Bauernfeste, dass Japan früher einen viel offeneren Umgang mit der Sexualität pflegte. In der Edo-Zeit (1603 bis 1868) waren die Abbildungen sexueller Handlungen und Fantasien in Form von Einzelbildern, Bilderbüchern oder Handrollen etwas ganz Normales.
Diese sogenannten «Kopfkissen-Bilder» oder «Bilder zum Lachen» zelebrierten die Freuden des sexuellen Lebens und erlauben dem Betrachter der Gegenwart einen lebendigen Einblick in die Privatsphäre, Struktur und Fantasien der damaligen Gesellschaft. Nicht selten handelt es sich um zärtliche und humorvolle Werke.
Erst mit dem Beginn der Meiji-Zeit (1868 bis 1912), als sich Japan dem Westen zuwandte und sich in wenigen Jahrzehnten modernisierte, kamen die «Kopfkissen-Bilder», die man nun «Shunga» (wortwörtlich «Frühlings-Bilder») nannte, in Verruf. Gegen Ende der Meiji-Zeit wurden Produktion und Vertrieb von «Shunga» endgültig verboten und tabuisiert.
Ein langsames Umdenken
Es dauerte über 100 Jahre bis Shunga in Japan ein Comeback als Kunstwerke geben durften. Erst im letzten Jahr erhielt Japan seine erste grosse Shunga-Ausstellung überhaupt. Das Eisei-Bunko-Museum wagte die Ausstellung «Sex and Pleasures in Japanese Art», die zuvor im British Museum gezeigt worden war (Asienspiegel berichtete). Die einzige Einschränkung war, dass der Zutritt erst ab 18 Jahren erlaubt war.
Insofern bleibt die Hoffnung, dass auch Megumi Igarashis Arbeiten irgendwann mal als Kunst geschätzt werden.
Update, 9. Mai 2016
Ein Gericht hat Megumi Igarashi zu einer Geldstrafe von 400’000 Yen verurteilt, wegen der digitalen Verbreitung von obszönem Material. Gleichzeitig wurden Sie vom Vorwurf freigesprochen, dass ihre Vagina-Werke obszön seien. Es handle sich hierbei durchaus um Kunstwerke. Letzterer Punkt wird von Igarashis Verteidigung als ein historisches Urteil betrachtet, das die verfassungsmässig garantierte Meinungs- und Ausdrucksfreiheit stärkt. Igarashi möchte aber einen vollständigen Freispruch. Sie hat daher angekündigt in Berufung zu gehen.
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